Jedes Jahr im Frühling findet im bayerischen Bad Kissingen der Heiligenfelder Kongress statt. Im wunderschönen Regentenbau kommen über 1.000 Menschen zusammen, um sich über Themen auszutauschen, die bewegen. Für mich war es in diesem Jahr die erste Teilnahme. Und ich bin nachhaltig beeindruckt. Nicht von Bad Kissingen, das mich bei der Einfahrt in die Stadt mit wunderschöner Landschaft begeisterte, jedoch leider auch mit zahlreichen NPD-Plakaten abschreckte. Vegetarier, WLAN-Nutzer und Kaffeeliebhaber haben es hier ebenfalls nicht leicht. Aber ich war ja auch wegen des Kongresses da. Und der hat ich mehr als gelohnt. Vier Tage lang gaben sich hochkarätige Experten die Klinke in die Hand. Oft war es gar nicht so einfach, sich zwischen den Parallelveranstaltungen zu entscheiden. In diesem Jahr lautete das Motto „Achtsamkeit“ – Evolution – Bewusstsein – Menschsein“ – also exakt das, was mich gerade beschäftigt.

Empathie ist nicht = Mitgefühl!

Am meisten beeindruckt hat mich ein Vortrag der Neurowissenschaftlerin Dr. Tania Singer. Mit sehr viel Witz schaffte sie es, mich mit ihren hochwissenschaftlichen Ergebnissen aus Studien ihres ReSource-Projektes in den Bann zu ziehen. Es beschäftigt sich mit der Frage, wie mentales Training Mitgefühl, Empathie und weitere soziale Kompetenzen beeinflussen kann. Sie unterscheidet dabei ganz klar zwischen Empathie und Mitgefühl. Denn ersteres bedeutet, dass ich wie jemand fühle, was durchaus auch zu eigenem Leid führen kann. Mitgefühl hingegen heißt, dass ich für jemanden fühle, was mit dem Wunsch einhergeht, zu helfen und sehr viel mit Liebe zu tun hat. Sie berichtet von Hirnstrommessungen bei buddhistischen Mönchen und davon, dass unterschiedliche mentale Trainings unterschiedliche Regionen in unserem Hirn verändern.

Wir können unser Gehirn verändern – Mindfulness matters!

Schon nach drei Monaten Meditation zum Beispiel verdickt sich der präfrontale Cortex, der quasi als Regisseur in unserem Hirn extrem wichtig ist und unter Dauerstress immer mehr verkümmert. Er ist derjenige Teil, der uns zu kontrollierten, vernünftigen, sozial handelnden Personen macht. Hier werden die Entscheidungen getroffen und die Konsequenzen gleich mitberücksichtigt. Nicht ganz unwichtig, also. Auch Singer beschreibt das Gehirn wie einen Muskel, den es zu trainieren gibt. „Ins Fitnessstudio gehe ich ja auch nicht und bin in zwei Tagen fit. Sonst würde ich da vielleicht auch endlich mal eintreten“, sagt sie.

Nicht jeden Tag Erleuchtung!

Und fügt gleich noch hinzu: „Wenn man meditiert, ist nicht jeden Tag Erleuchtung“. Ich recherchiere anschließend ein wenig im Netz zu Tania Singer und werde in meiner Euphorie etwas gedämpft. Denn die Vortragende war bis Herbst 2018 Direktorin des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und soll über Jahre Mitarbeiter eingeschüchtert und gemobbt und deshalb ihren Posten dort geräumt haben. So zumindest berichten zahlreiche namhafte Medien.

Am Nachmittag ist jeweils Workshop-Zeit. Ich entdecke zu meiner großen Freude das Thema „Achtsamkeit und Emotionale Intelligenz“ mit Angel Hernandez und Mounira Latrache. Latrache hatte ich bereits in einer Session bei der re:publica in Berlin gesehen und mir dort schon gewünscht, ihr mal länger als einer Stunde zuhören zu dürfen. Zwei Stunden intensive Arbeit mit Atemmeditation, achtsamem Zuhören, Journaling und vielen weiteren praktischen Übungen. „Wir befinden uns eigentlich permanent im Kriegszustand“, so Hernandez. Denn genau der ist es, den der Begriff VUCA, der gerade auch in der Führungswelt hoch aktuell ist, ursprünglich beschreibt. Er bedeutet Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit und macht unsere heutige Welt aus.

Wir brauchen neue Tools!

Und um in dieser nicht krank zu werden, benötigen wir neue Tools. Die alten haben ausgedient. Die gute Nachricht für die meisten von uns: „Jeder kann emphatisch sein sein, das haben Forschungen zur Neuroplastizität bewiesen. Es gibt also keine Ausrede mehr“, sagt Hernandez. Und Latrache plädiert dafür, dringend Emotionen in der Arbeitswelt zu nutzen, statt diese zu unterdrücken und zu verteufeln. Übrigens betreiben die beiden die gemeinsame Firma Connected Business.

Apropos Connected Business. Ein kleines XING-Meeting am Mittag ist zwar nicht übergut besucht, weil offenbar viele der Teilnehmer dort nicht unterwegs sind, aber dennoch erfrischend und verbindend. Denn oft huscht man an solchen Kongresstagen nur von einem Seminar ins andere, wechselt vielleicht mal zwei Sätze und zieht dann weiter. Hier jedoch gibt es intensivere Gespräche und echten Austausch. Super!

Was diese Veranstaltung außergewöhnlich macht, sind die Locations, die garantiert jedes Veranstalterherz höher schlagen lassen. Der Regentenbau, der herrliche Park, durch den ich auf dem Weg zu den einzelnen Workshops gehe und die herumliegenden kleineren Kliniken mit ihren diversen Räumen für Seminare.

Mindfulness als Führungsqualität

Was höre und sehe ich noch? Ich lausche Dr Anna Gamma zum Thema „Achtsamkeit als Führungskunst“, die Achtsamkeit als Beziehungsmodus und einen offenen Geist fordert. Auch und gerade von Führungskräften, die Verschiedenheit viel zu oft als Bedrohung sehen und nicht als Erweiterung willkommen heißen. Dann schlendere ich durch die Bogengänge, biege ab und erstehe feines, neues Arbeitsmaterial für meine eigenen Workshops, trinke einen Kaffee an einem romantischen Brunnen im Innenhof und lande schließlich ein bisschen zufällig im Workshop „Mindfulness in Meetings“ mit Rudi Ballreich. „Meetings sind das soziale Betriebssystem der Organisation. Verändere die Meetings, dann veränderst du auch das Betriebssystem“, sagt er. Auch, was Meetings angeht, sind Achtsamkeit und Präsenz extrem wichtig, denn die Lücke zwischen Reiz und Reaktion fehlt sonst. Wieder wird klar, wie elementar die Trennung von Wahrnehmung und Denken ist.

Raus aus den Automatismen!

Viel zu oft fallen wir in Denkstrukturen und interpretieren gemäß unseren Glaubenssätzen, obwohl die Realität ganz anders aussieht. Wir müssen raus aus den Automatismen. Auch etwas, was in den Tagen immer wieder Thema ist. Aber wie sieht sie eigentlich aus, die Prozessgestaltung in Meetings? Was macht ein Meeting „erfolgreich“ und führt zum gewünschten Ziel? Auch hier steht Mindfulness im Mittelpunkt. Denn ohne sie geht es nicht. Hinzu kommen aber natürlich unter anderem auch das Wahrnehmen, das Wollen, das Nachdenken und schließlich die Handlungsentscheidung. Mein Kopf ist voller Inspirationen und Ideen. Und ich bin begeistert von der der Erkenntnis, dass Mindfulness nun endlich rauskommt aus der Esoterik-Ecke und Einzug erhält in die Arbeitswelt. Auch, wenn dazu erst wissenschaftliche Belege notwendig waren…

Und sogar mit Bad Kissingen konnte ich mich am Ende ein ganz klein wenig versöhnen. In dem Ladencafé „So leb‘ ich“ habe ich schlussendlich kurz vor Ende meines Aufenthaltes einen guten Cappuccino bekommen und zuvor am Internationalen Tag der Museen eine Vernissage des Herner Cartoonisten Michael Holtschulte besucht, dessen Arbeit im übrigen auch sehr viel mit Achtsamkeit zu tun hat. Denn ohne diese könnte er nicht so messerscharf den Nerv der Zeit treffende Zeichnungen kreieren.